Das Ende

4:15 Uhr in der Früh klingelte mein Handywecker. Ich drückte nicht auf snooze, wie ich es früher immer tat, ich stand sofort auf. Nicht bei Sinnen, aber gut programmiert, arbeitete ich all die notwendigen Schritte, ab um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Erst die Morgentoilette, dann die Sachen packen, alles abbauen und in den Taschen verstauen. Das war der wohl spannendste Moment, denn da ich es aus gewohnter Faulheit nicht vorher getestet und probiert hatte, konnte ich nur hoffen, dass alles in die Taschen passt und einigermaßen tragbar war. Langsam arbeitete ich Schritt für Schritt konzentriert ab und irgendwann standen nur noch meine große Reisetasche, mein Ortlieb-Rucksack und mein geliebter superleichter Decathlon-Rucksack vollgepackt vor mir. Daneben lagen noch eine Mülltüte und eine Tüte mit leckeren Focaccias, welche ich einen Tag zuvor besorgt. Ich nahm die zwei Tüten, entsorgte den Müll und setzte mich auf die stock dunkle Terrasse vor der Rezeption. Zog mir einen Kaffee aus dem Automaten und nahm mein letztes Frühstück auf dieser Reise zu mir. Es war dunkel und ruhig, alle schliefen, während ich mit den Tränen kämpfte, und versuchte, mich zu stärken. Ich nahm mir Zeit, mir war es wichtig, diesen Moment zu begreifen und auszukosten, so schmerzlich er auch war.

Dann ging es los, die große Reisetasche nahm ich, wie einen Rucksack auf den Rücken. Den Ortliebrucksack schnallte ich mir über die Schultern nach vorn, sozusagen ein Bauchsack und den Rucksack von Decathlon trug ich in der Hand. Es war krass schwer, die Träger vom Bauchsackt rutschten ständig und die Träger von der Reisetasche drückten kräftig. Aber was soll’s, ich hatte genügend Zeit, um ein paar Pausen einzulegen. Es ging Berg ab, es lief sich gut, bis ich an der erwarteten Treppe stand. Spärlich beleuchtet, nass, rutschig, eng, unförmig und steil lagen die Stufen vor mir. Konzentriert, fast schon im Gehmeditationsmodus nahm ich Stufe für Stufe. Mir war klar, ein falscher Schritt, ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit und es wird mega schmerzvoll. Unbeschadet erreichte ich die Straße, die mich weiter hinab zum Meer führte. Am Meer atmete ich erstmal tief durch, während ich in die endlose Dunkelheit starrte aus der mir eine starke, wohltuende Brise entgegen wehte, und genoss das beruhigende grollende Rauschen der Wellen. Noch reichlich 3 km lagen bis zum Bahnhof vor mir und ich merkte schon jetzt, wie meine Beine brannten, das Gewicht der Taschen und die Treppen blieben nicht ohne Folgen. Wenn mich eines diese Reise gelehrt hat, dann, dass man einfach nur stupide Schritt für Schritt laufen muss, dann kommt man überall hin. Genau das tat ich, genoss, dabei das Örtchen im Dunkeln und beim Erwachen zu erleben. Toll fand ich, dass einige der kleinen Cafebars bereits geöffnet waren und Menschen, die zur Arbeit gingen, sich dort einen übertriebengut schmeckenden Espresso gönnten.

Am Bahnhof kämpfte ich mich die Stufen zum Gleis hoch, lies mich auf eine Bank plumpsen und beobachtete die Umgebung. Das Erste, was mir auffiel, war, dass ich wohl am Werksverkehr teilnahm, es warteten viele Menschen und Schüler mit mir. Das Zweite, was ich registrierte und sofort als total nervig empfand, war, dass, wenn eine Durchsage eine Zugdurchfahrt ankündigte, ertönte eine schrille, laute Klingel, welche erst aufhörte schrill und laut zu klingeln, wenn der Zug durchgefahren war, das konnte Minuten, gefühlte Ewigkeiten dauern. Das Dritte war, dass die durchfahrenden Züge mit vollem Bumms durch den Bahnhof schossen, alter Falter, da schüttelt es dich sogar sitzend auf der Bank durch. Dann kam das, was irgendwann früh bei mir kommen muss. Es kündigte sich der Eilzug aus Darmstadt in mir an. Der Schweiß des anstrengenden Weges war längst verdampft, nun krochen Angstschweißperlen aus den Poren. Ich sah die Bahnhofstoilette, sie befand sich wie zum Hohn genau am Gleis gegenüber. Ich war willens mein Gepäck allein zulassen, um mich zu erleichtern, aber eine fette eiserne Kette hielt die Flügeltüren zusammen und ein, an ihr befestigtes Schild zeigte angeberisch viele italienische Wörter, von denen ich nur das Wort “Covid” lesen konnte und mir den Rest zusammenreimte. Es hat ja sein Gutes nicht in Melancholie und Trauer zu versinken aber ich kann mir wahrlich eine bessere Ablenkung als Horrorszenarien vorstellen, denn Wechselklamotten hatte ich natürlich nicht eingeplant. Der ersehnte Zug kam, wir stiegen ein und das erste, was ich sah, war, dass noch im Bahnhof eine Frau auf Toilette ging, als sie wieder raus kam, stürmte ich förmlich den Ort der Erleichterung und fand Erlösung.

Der Zug fuhr am Meer entlang und durchfuhr etliche Tunnel, ich sah die Landschaft, die Berge, das Meer, die Wälder, die Menschen und fragte mich ständig, ob ich das Richtige tue?

In Genua verließ ich den Bahnhof, damit mein Handy wieder GPS Empfang hatte und ich mich orientieren kann. Vorher hatte ich mir eine Markierung in die App gesetzt, an der Stelle, von wo aus der Flixbus nach Mailand losfahren sollte. Ich erwartete einen Busbahnhof oder eine Bushaltestelle oder etwas Ähnliches, fand da aber nur eine normale Hauptstraße, hier und da warteten Menschen und ganz hinten stand ein Flixbus, der aber losfuhr, als ich mich näherte. Also ging ich zu den Menschen und fragte mich durch, so richtig wusste niemand was, wie und wo. So stellte ich mich einfach zu einer Gruppe, von denen auch ein paar nach Mailand wollten. Man muss einfach vertrauen und darf sich nicht verrückt machen, das Warten lohnte sich, zwei Flixbusse kamen, nach ein paarmal hin und her saß ich im Bus nach Mailand, genoss die Aussicht und die bequeme Art zu reisen.

Als wir in Mailand in den Zielbahnhof fuhren, sah ich krasse Dinge, unglaubliche Armut, viele Obdachlose und es lief gerade ein Polizeieinsatz. Mein Anschlussbus fuhr von dieser Station, nur musste ich noch 4 ganze Stunden dort überstehen. Es war spannend, die Leute zu beobachten, aber es war nicht entspannt, denn ich passte auf meine Sachen auf wie ein Wachhund. Aber auch diese Zeit verging, ich fand den Bus, bekam einen Platz und lernte interessante Menschen kennen. Mein Sitznachbar war Italiener, sprach perfekt deutsch und fuhr nach Hamburg, in der Hoffnung einen Studienplatz zu bekommen. Ein junger Mann in der Sitzreihe gegenüber, war ein Wanderer und will von Deutschland zum Mittelmeer laufen. Dafür nutzte er seinen Urlaub und ging so von Jahr zu Jahr in Etappen. Dieses Mal überquerte er die Alpen, der Typ war echt krass drauf, er hatte ein Tagespensum von über 30 km und das in den Alpen. Es war superspannend, er zeigte mir die Stellen, an denen er gelaufen ist, während wir mit dem Bus vorbei fuhren. Es erinnerte mich an die Fahrt, als ich Johanna nach Hause fuhr und wir ständig Orte sahen, an denen wir waren. So erfuhr ich auch, dass es wohl in den Ausläufen der italienischen Alpen sehr viele Wildschweine gibt, sie dürfen dort nicht geschossen werden. Es gibt dort so viele, dass es wohl sehr gefährlich ist, dort wild zu übernachten.

Bei der Einreise in die Schweiz mussten wir unsere Pässe vorzeigen und wie es so ist, ein Superdeutscher ist immer dabei. Ich hörte ihn mit dem Beamten diskutieren, wozu man denn in Europa einen Pass brauche, ein Führerschein tut es doch auch. Diese Passkontrolle dauerte ca. eine viertel Stunde. Nachts gegen 2:00 Uhr erreichten wir das andere Ende der Schweiz und wir wurden wieder überprüft. Diesmal wurden unsere Pässe eingezogen, mitgenommen und es dauerte mehr als eine Stunde, bis wir sie wieder hatten. Wir konnten weiterfahren, nur der Herr mit dem Führerschein wurde wegen illegaler Einreise festgenommen und musste dortbleiben. Warum ihn der andere Schweizer überhaupt einreisen lies, erschließt sich mir nur durch Geldgier, denn der superschlaue Deutsche muss ein fettes Bußgeld zahlen, bevor er wieder nach Hause kann.

Pünktlich mit der Einreise nach Deutschland begann es stark zu regnen. Wo ich aussteigen werde, wusste ich noch nicht. Der Bus fuhr nach Düsseldorf, hielt aber auch in Bonn und am Kölner Flughafen. In Bonn war die Museumsmeile sein Ziel, das war zu umständlich für mich, also wählte ich den Kölner Flughafen. Das war die richtige Entscheidung, denn schnell war ich, mitten im früh morgendlichen Werksverkehr, mit der S-Bahn am Hauptbahnhof und von dort brachte mich die Regionalbahn nach Euskirchen, von wo aus mich mein Schwiegervater mit dem Auto dankbarer Weise nach Hause brachte.

Ich trat in die Wohnung, meine Frau war auf Arbeit, ich war froh, diesen Tag hinter mich gebracht zu haben, aber irgendwie fühlte sich alles seltsam an.

 

Heute wollte ich diesen Artikel unbedingt beenden, denn heute ist der 31.12.2022 und mittlerweile auch schon 18:40 Uhr. Silvester ist für mich traditionell ein Tag, an dem ich darüber nachdenke: Wo stehe ich? Will ich hier sein? Wo will ich hin? Was muss ich dafür tun? 

Naja und diese Gedanken sind total verrückt. Ich weiß, es war die richtige Entscheidung, die Reise abzubrechen und zu meiner Frau zu gehen. Aber dennoch war diese Reise mein Lebenstraum und auch, wenn ich mitten in den Vorbereitungen einer neuen Reise stecke, wird es nicht mehr das Gleiche sein. Auf der einen Seite bin ich unglaublich glücklich und dankbar diese Reise gemacht zu haben, andererseits bin ich innerlich total zerissen und traurig über dieses Ende. 

 

Ich bedanke mich herzlichst für euer Interesse und eure Unterstützung, wenn ihr wollt könnt ihr hier bald lesen, wie es weitergeht. 
Bis dahin wünsche ich euch alles erdenklich Liebe, viele eigene Abenteuer und vor allem Gesundheit!

 
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